„Meine Berliner Kindheit“ von Barbara Schilling, erschienen im Verlag Rosenheimer …
… lässt die späten Kriegs- sowie die Nachkriegsjahre der Hauptstadt Deutschlands wiederauferstehen. Das Buch handelt von Helene, die als uneheliches Kind von Geburt an nicht gerade mit den besten Karten ausgestattet ist. Als Älteste von sechs Geschwistern und weil sich ihre Mutter Anneliese als nur bedingt lebenstüchtig erweist, ist sie gezwungen, sehr früh wie eine Erwachsene zu denken, zu handeln und Verantwortung für ihre Familie zu übernehmen.
Einfühlsam beschreibt Autorin Barbara Schilling das Leben und Überleben im Berlin der 40-er und 50-er Jahre, das geprägt ist von Armut, Hunger und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ohne zu beschönigen zeigt die Autorin, wie der Alltag für die Ich-Erzählerin Helene abläuft, mit welchen Widrigkeiten sie sich konfrontiert sieht, aber auch welche Abenteuer sie gemeinsam mit ihren Kinderfreunden besteht.
„Meine Berliner Kindheit“ lebt von der stimmigen Ausgewogenheit zwischen Tragödie und Komödie, die wohl das Dasein fast jedes Menschen bestimmt:
Man fühlt mit der Protagonistin, wenn sie sich vor den Gespenstern in ihrem Zimmer fürchtet, wenn sie ungerechtfertigt Prügel von der eigenen Mutter einsteckt, sich einem brutalen Stiefvater ausgeliefert sieht oder darunter leidet, dass sie niemals für sich allein sein darf.
Auf der anderen Seite amüsiert man sich prächtig, wenn die Autorin über Helenes ersten Schultag, ihre Mädchenstreiche oder erste Leseerlebnisse mit Wilhelm Busch und Johann Wolfgang von Goethe erzählt.
Barbara Schilling schafft es in gewohnter Manier, ihre Leserinnen und Leser in die Handlung hineinzuziehen. Sie beschreibt Menschen und Szenen ebenso lebendig wie präzise, würzt ihre Dialoge mit Pep und „Berliner Schnauze“ und sorgt so für ein Höchstmaß an Authentizität. Für Drama, Spannung und Gänsehaut sorgt schon allein der historische Hintergrund der Geschichte.
Enttäuschend empfinde ich allerdings den Epilog, wenn die Protagonistin über ihre Eltern meint: „Sie liebten sich – auf ihre Art“. Das zeigt meiner Meinung nach, dass sie aus all den tragischen Ereignissen ihrer Kindheit und Jugend nur wenig gelernt hat …
Inhaltlich erinnert „Meine Berliner Kindheit“ stark an „Die Asche meiner Mutter“ von Frank McCourt. Auch in Punkto Umgang und Gefühl für Sprache braucht Barbara Schilling den Vergleich mit dem Pulitzerpreisträger nicht zu scheuen.
Was der Autorin allerdings weniger gelingt, ist „Meine Berliner Kindheit“ als durchgängigen Roman erscheinen zu lassen. Das Buch ist meines Erachtens eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten in chronologischer Abfolge.
Den Unterhaltungswert und die Bedeutung der Lektüre schmälert diese Tatsache allerdings keineswegs.
Martina Jung für Orange 94.0