Peter Pitsch 20.11.2011 zu MEINE BERLINER KINDHEIT

 

„Es waren die Sechziger Jahre. Dann und wann rumpelte ein schwerer LKW über die Straße mit einem kleinen Verband englischer Soldaten auf der Ladefläche. Ich kann mich erinnern an das schrille Heulen der Sirenen, lautstark und mehrstimmig, Signale einer latenten Bedrohung. Probealarm. An der Seite meiner Mutter stieg ich hinab in den modrigen Keller. Spürbar schwebte noch der düstere Schatten des letzten Weltkrieges über den Köpfen der älteren Hausbewohner. Wie hätte man einem Kind begreiflich machen können, daß jene Maßnahme dazu diente, vor einer (damals hypothetischen) zerstörerischen Gefahr Schutz zu suchen? Wie hätte meine Mutter den Schrecken heraufbeschwören sollen, den sie selbst als Kind erlitten hat, ohne das Grauen erneut in die Welt zu rufen?
Mit ihrem Roman „Meine Berliner Kindheit“ hat Barbara Schilling diese emotionale Brücke errichtet. Teils ergreifende, teils traumatisierende Geschehnisse während des Zweiten Weltkrieges schildert sie aus der Sicht eines Berliner Mädchens. Am Schicksal dieser Einzelnen – in der Intimität des kindlichen Daseins – wird nachfolgenden Generationen das Los jener Jahre nachvollziehbar gemacht. Die geballte Wucht gezielter Zerstörung europäischer Städte ist zu überwältigend, zu unfassbar die Abermillionen von Toten, die einer dumpfen Ideologie zum Opfer fielen. Kraft des Romans aber lernen wir – mit Sympathie und Mitgefühl – das Leben einer Berliner Göre kennen, die sich entgegen ständiger Hungersnot und endloser Bombennächte eine menschliche Identität bewahrt. Die um jedes noch so kleine Glück zu ringen bereit ist, und die uns auf unmittelbare Weise verdeutlicht, dass jene nackte „Zahl“ aus irgendeiner Kriegs-Statistik ein Menschenleben birgt.
Meine Mutter, wie die Protagonistin dieses Romans Jahrgang 39, hat sich während und nach der Lektüre dieses Buches mit einst-verdrängten Erlebnissen beschäftigt: Momente des Beisammenseins inmitten des Schreckens; hie und da winzige Zeichen der Hoffnung; Inseln der Menschlichkeit in zerbombten Städten, eisige Nachkriegswinter überdauernd.
Die letzten 100 Seiten ihres ansonsten großartigen Romans füllt Barbara Schilling mit einer Reihe Alltagsepisoden. Hätte sie der Lebenswillkür im Nachkriegs-Deutschland ein größeres Maß an psychologisch-eindringlicher Substanz zugewiesen, ich hätte „Meine Berliner Kindheit“ zu den großen Werken der Literatur gerechnet. Gleichsam bin ich davon überzeugt, dass viele Mitbürger älteren Jahrgangs sich in diesen zusammengefügten Episoden wiedererkennen werden und deren Vorhandensein einer ausgleichenden Leichtigkeit wegen begrüßen.“