Lieber gar nicht als Gans
Der gefallene Engel
von Barbara Schilling
(Beitrag zum Thema Engel – bezugnehmend auf den Literaten Günter Grass)


„Nach schnellem Aufstieg matt nach unten zieht
In hundert Kreisen und, setzt er sich nieder,
Des Meisters Nähe dumpf und zornig flieht“

„Doch hinter ihnen war des Waldes Stätte
Ganz voll von schwarzen, gierigen, flinken Hunden.
Den Bracken gleich, die los von ihrer Kette.

Sie bissen den, der sich am Grund gewunden,
Und sie zerfleischten Stück um Stück ihn dann,
Und schleppten fort die Glieder, voller Wunden.“

… heißt es bei Dante


Man stelle sich vor: Ein deutscher Literat von Format!

„Im Osten“ in den kleinbürgerlichen Mief einer Kaufmannsfamilie geboren, sieht er, was Tausende sehen… die Treppe ´rauf, die Treppe ´runter. Schreibhefte neben Gurkenfässern und Milchkannen.
Er spürt das Sein als Sohn seiner Eltern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer kleinen Stadt „mit Post“ allzu deutlich. Die Räume zu eng, die Wände zu dicht, zwei Zimmer reichen nicht für einen angehenden Engel?

Die Gefahr, der er fast wie durch ein Wunder, andere nennen es Zufall, einige Male entronnen ist… Ob Engel unsterblich sind? Glückskinder? Schützt ihre Aura sie – werden sie als Engel erkannt, auch von durch die Luft sirrenden Geschossen?

Also, was sah er? Die ersten Jahre nichts Besonderes womöglich, oder anders gesagt: Einzigartiges teilte er mit Tausenden – bis er als junger verwirrter Mann in der Schweiz einen Jungen mit einem fatalen Ding um den Hals trifft, der, sonst stumm wie ein Fisch, bereits nach wenigen Augenblicken das Zimmer der Erwachsenen wieder verlässt.
Schwing das Stöckchen, lass die Alten tanzen. Bumm, bumm, bumm, bumm – alte Traumata reißen auf? Neue Ideen nehmen missgebildete Gestalt an? Der Erzählzwang wird –zwerg, setzt sich fest? Im Geheimen, will immer wieder, doch in falscher Form hervorbrechen. Erst in feuchter Atmosphäre, in zeitlicher und räumlicher Ferne nimmt der Fluss schließlich seinen Lauf, der Literaturgeschichte schreiben sollte. Im Stehen versteht sich. Immer im Stehen.

Und er zieht immer aufs Neue aus, um das Fürchten zu lernen. Übertage, untertage, nirgends schlägt er Wurzeln, zieht weiter, geht hin, weicht fort, sieht, formt und wird geformt.
Neben den Mädchen bannen seine Augen vor allem die Tiere… Federvieh, Nutztiere und Nager, Haustiere und Fische. Sie landen bei ihm auf dem Papier in Kohle oder Tinte oder in der Pfanne…
Über die Jahre hinweg behält er seine Veterinär-Schwäche und seine Vorliebe für „Arme-Leute-Essen“: Kuddeln und grüne Heringe serviert er noch Jahre später, als er sich schon längst kiloweise Wildreis und Fasanenbrust leisten könnte. Aber nein, er bleibt einer von ihnen – vielleicht sogar einer von uns: setzt seinen Gästen Schweinskopfsülze und Bratkartoffeln vor. Der Zwerg mit der Trommel weicht nicht von ihm, auch wenn er selbst längst zum Engel mutiert. Will er nicht zu hoch hinaus; schätzt er die Bodenhaftung? Ob Baracke, Dachgeschoss oder Kellerruine; die Flügel wachsen unaufhaltsam, kitzeln seinen Rücken, durchbohren aber noch nicht vollständig die nicht mehr ganz heile Haut. Nur, wer ihn nackt sieht, wer genau hinschaut, hat eine Chance, die Flügelspitzen zu erkennen, die von Beifall gefüttert zu mächtigen Schwingen werden sollen, nicht ohne verspannte Schultern und Schmerzen zu bereiten. Auch Ruhm trägt sich manchmal schwer…

Geflügeltes liebt er. Und eines hat er gelernt: Keine Gans ohne Beifuß!
Kein Engel oder Flügel? Keine Heiligsprechung ohne Verdammung?
Gans oder gar nicht? Etwa Gans ohne Flügel? Oder ganz ohne Flügel?

Jung trifft er die Lyrik, den Ton, bearbeitet Scheiben und Steine in der Fiktion oder der Realität. Fühlt sich abermals beflügelt bei Musik und Skulptur. Immer öfter greifen seine Hände nach dem Stift, der Feder natürlich…
Wird er anfangs noch misstrauisch beäugt und beinahe als unerwünschtes Subjekt hinausgeworfen, übersieht man bald seine verdächtige Physiognomie, denn er liest: LAUT und DEUTLICH! Er wollte in keine Gruppe – oder?, doch die Gruppe will ihn… und bald schon kauft er seiner Frau einen Rock. Er selbst. Noch sind die Flügel gefaltet, zucken im Wind der Vorsehung.

Als verträumtes Muttersöhnchen liebt er die Kunst, macht im Laufe seines Lebens Karriere als Schuldeneintreiber, Spitzeisenschwinger, politischer Fürsprecher, granitener Kritiker und natürlich als Literat. „Als GROHOßER Literat.“, „Einer der größten unseres Landes…“, „Das habe ich ja schon immer gesagt.“ wie es später hier und da heißen wird.
Er als homo politicus? Politik meets Literatur? Nun doch die Weihe? Seltsame Kulturpäpste küren ihn zum Schriftsteller „von Deutschlands Gnaden“, andere verpassen ihm später eine zweite Berufsbezeichnung, von der er sich nie erholen wird. So sehr er sich auch bemüht. Tut er es? Oder liebt er seinen Aufstieg? Seinen Engelstatus, der ihm Röcke und Plattfische beschert und Gehör verschafft, der ihn kaum noch unerkannt in eine Kneipe gehen lässt? Er hat den Olymp erstiegen, bevor dieser ihn gerufen hat. Doch ein Hausvater hat viele Pflichten, Kinder und Feinde. Macht, Intrigen und Zirkus, stets der Rummel um seine Person. Und nicht selten gibt er den Affen Zucker!

Suchend und reisend ist er – rauscht in der Welt umher, sieht das Elend und den Ganges, predigt nicht, aber schaut der Moral auf die Finger. Gründet und spendet, aktiviert und unterstützt. Ganz der rastlose Engel, der seine Flügel benutzt. Doch mit der Größe werden sie auch schwerer und leichter zu gleich. Bald schon scheinen sie durch, nicht wahr? Weißlich? Grau besprenkelt? Gar schwarz, weil der Mensch sowieso nicht sieht?

Offizieller Beruf? Engel.
Tätigkeit? Schreiben, fliegen, vertreten.
Wen oder was vertreten sie? Mein… mein… Meinungen.
Was noch? Kultur, Verstand, die Deutschen…
Tun Sie das freiwillig? Verzeihung? Ich verstehe Ihre Frage nicht.
Na gut, spielen Sie uns etwas vor! Haben Sie ein Waschbrett zur Hand?
Nein, so etwas benutzt man heut nicht mehr, Herr Engel. Hier der feuchte Ton.
Nein, nein. Er klebt an meinen Händen.
Waschen Sie sie in Unschuld.
Raucherhusten ertönt. Meine Flügel hindern…

Der Engel erzählt teuflisch genau. Er sieht nicht weg. Hält den Finger auf der Wunde, die Geschichte heißt. Das gefällt nicht allen. Wie auch? Was allen gefällt, ist tot.

Lernte der Engel fliegen, als er einst nur noch knappe fünfzig Kilo wog? War die Leichtigkeit des Seins materialisiert in Graupensuppe und Kommissbrot? Wie leicht ist leicht? Wann werden Engel volljährig?

Spiel mit dem Feuer. Immer geradeaus. Mund verbieten? No risk no fun. Was soll er nicht sagen dürfen? Er – als demokratisch gewählter Engel? Der nicht allen, aber doch den Meisten (Wahlberechtigten) zusagt…
Er mischt sich unter die Menschen, steht zu dem, was er tut oder nicht tut. Ja? Die Gläubigen, die Sehenden, die Erkennenden, aber auch die Verteufler, Verbanner und Marktschreier schwanken innerlich noch und nöcher zwischen relativer Verehrung und leidenschaftlicher Verachtung.

Dürfen Engel archaisch sein? Oder nur gefallene?
Radikal antiradikal offenbart er den Menschen gleiche beide wunden Punkte, für jeden etwas, hält auch noch die andere Wange hin. Für wen? Er hätte aufsteigen können, steil aus der Gasse der Masse hinauf in den künstlerischen Elfenbeinturm, um von oben zu spotten, zu verwerfen oder sogar hinunterzuspucken. Doch er blieb, versuchte seine Flügel nur dort, wo er vermeintlich Platz hatte, auf weitem Feld, wo sie Schatten warfen auf der Erde – selbst wenn niemand zusah.

Genial ist ein langweiliges Wort. Es klingt so abgeschlossen, doch kein Text ist beim Engel je fertig, trotz oder wegen seiner Nähe zum Himmel? Jeder Text bleibt in der Schwebe, doch nicht wolkenleicht, sondern regenschwer, nass und tropfend, vollgesogen wie ein Schwamm vom Menschlichen. Der Mensch ist (nicht) gut.
Sein Text weiß das, wird nur durch den Buchdruck aus der Schwebe geholt und geerdet, wird gebannt, zwangsinhaftiert zwischen zwei Pappdeckeln. Doch er klopft, pulsiert, wummert, protestiert, drängt nach außen, will sich ergießen – über die gesamte Menschheit. Er will infizieren, möchte direkt ins Gehirn vordringen. Die Erinnerungen, Erfahrungen und das Erdachte wollte und konnte in seinem eigenen Kopf bereits nicht verharren. Wie kann er dann, wenn ihn nicht einmal ein solch, erwiesenermaßen harter, Engelsschädel einsperren kann, in einem Buch festgehalten werden, dass bereits nach wenigen Wochen, wenn sich die Kritiker satt gefressen, überfressen, so voll gefressen haben, dass sie all die Wortschwalle widerkotzen, im Regal von mehr oder weniger intellektuellen Lesern verhungert? Ein Buch mit Flügeln? Verleiht Flügel? Mein Gott, ich will kein Engel sein!

Die Menschen wollten einen Engel. Auf den sie stolz sein können. Über den sie reden und diskutieren können. Nein, zu brav darf der Engel nicht sein; das wäre langweilig. Aber ein geistiges Schutzschild? Schutz und Engel?

Gibt es Engel?
Hast du schon einen gesehen? Ihn erkannt?
Sind es nicht alles nur verkleidete Menschen?

Der Engel fordert Opfer. Oder fordert das Engelsein die Opfer?
Millionen Schüler und Studenten quälen sich durch seine bizarren Beobachtungen, die Begebenheiten beschreiben, die so und doch nie so geschehen sind. Seine Figuren sind keine Engel, waren es nie, sind nur auf faszinierende Weise abstoßend: Bauchnabelliebhaber, Adamsapfel gepeinigte, Zahnschmerzopfer, Vogelscheuchenfreaks, Übermütter, Selbstsegelnde, Spionagegeister… Vielleicht sind dies alles gefallene Engel?
Er jedenfalls ist nicht tot. Ist Gott, der Gott der Klassenarbeiten, der Zwischenprüfungen und Examensthemen, sein „Zugegeben…“ beschäftigt mehr Schreibhände als es fühlende Köpfe gibt.

Seine Vorliebe für Krankenschwestern und Onkelfiguren, deftige Gaumenfreuden und das „Richtige“ macht ihn zum Menschen. Der Engel tut, lebt, liebt und kocht.
Darf ein Engel rauchen? Muss er nicht Vorbild sein? Für die, die einmal Engel werden wollen? Oder bestimmt sind, die Menschen zu verzaubern und es noch gar nicht ahnen?

Mal ehrlich, glaubst du noch an Engel? Wie können sie dann fallen? Außerdem – sie fliegen doch…
Brauchen wir überhaupt Engel?

Man höre: Dieses kulturelle Aushängeschild, die blonden Engelslocken unter struppig dunklem Künstlerhaar versteckt, schreibt im fortgeschrittenen Alter eine Beichte, die keine ist. Ein „So war es“ ohne Bitte um Absolution, da er dem Glauben schon lange entsagt hat, auch wenn er ihn einst persönlich im Gefangenlager traf. Es gab keinen Pasch damals. Er liefert Erklärungen, die noch mehr Fragen aufwerfen. Erzählungen von Schuld und Sühne, vom ins Lebengeworfensein als Sohn, Schüler und Soldat. Dazu schlägt er mit den Flügeln: Es musste raus – endlich endlich…“
Erzählt Lebenstropfen, verrinnt der Saft? Der Tod auf dem Fahrrad. Später als selbst Kinder- ins-Leben-werfernder, als Denkender, Handelnder, Wissender – und als Mensch. Und keiner hört ihm mehr zu.

Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein.
Viele werfen, mit vollen Händen, suchen die größten Brocken; sie treffen ihn hart, er wird fast gesteinigt. Der Engel mit den großen Schwingen soll vom Sockel gestoßen werden. Er wankt, doch er fällt nicht. Seine Flügel werden spröde? Dünn wie Reispapier? Wer droht mit dem Fegefeuer? Unser Engel wehrt sich mit Macht. Dort, bröckelt dort Stein? Nicht die Mütze rutscht, nur die Augen verraten – nichts…

Und alle schreien auf. Ein lustvolles Stöhnen geht durch die Reihen. Derer, die „schon immer…“. Ikarus ist zu hoch geflogen, die ganze Zeit höher und höher. Doch seine Flügel waren nicht echt?
Nun muss der Engel fallen. Endlich. Es ist wie eine Befreiung. Die Frage nach der Schuld kann keiner von sich weisen. Doch auch niemand beantworten. Und sie stürzen sich auf ihren alten Engel und schneiden, nein reißen ihm Stück für Stück die Flügel ab, bis nur noch eine zerfurchte blutige Fläche an der Rückseite zurückbleibt. Waren die Flügel doch echt? Oder sind sie gar mit der Zeit eins mit ihm geworden, in Fleisch und Blut übergegangen? Steigt er selbst zwischenzeitlich von seinem auf Jahrzehnten erbauten Sockel?
Von vorn sieht man dem Engel fast nichts an und einige wollen ihn wieder aufstellen. „Ist doch nicht so schlimm, vergessen wir es einfach.“ Doch genau gegen dieses Vergessen rennt der Engel an, seit seiner Ernennung zum Engel, seitdem er noch ein kleiner Engel in Berlin und Paris war. Nicht um das Vergessen geht es ihm. Um das Verstehen? Kann man Engel verstehen? Falsch, können Menschen Engel verstehen? Andere Frage: Kann man einen Engel zurückverwandeln? In was?
Wird der Engel nun zum Teufel? War er es schon immer? Wie alt wird ein Engel? Mindestens achtzig?
Und wenn er stirbt? Und seine Mörder? Haben sie sich schuldig gemacht? Und die, die wegsahen?

Warum wollte der Engel fallen? Wusste er, wie tief er fallen konnte / würde?
„Alles nur PR“, tönen die einen.
„Der Engel ist gefallen“, sagen die anderen.
„Vom Himmel?“
„Nein, von der Bühne des Feuilleton.“
„Gibt es dort Engel?“
„Jetzt nicht mehr, glaub ich…“
“Och, und die anderen?“
„Engel? Doch Engel?“
„Ich weiß nicht…“
„Teufel?“
„Ich weiß nicht…“
„Gibt es noch etwas?“
„Dazwischen, meinst du?“
„Hm, ist der Mensch mehr Teufel oder mehr Engel?
„Du meinst, eher diabolisch oder mehr eng(e)lisch?“
Flügelschlagen.

Was endlich raus musste, hat den Mann der geflügelten Worte die Tweed-Flügel gekostet – aber vielleicht wollte er auch einfach kein Engel mehr sein! Oder war er nie einer? Was tut ein Engel? Woran erkennt man ihn?

Und zu spät erkennen sie, die auch keine Engel sind, oder? Dass sie sich selbst des Fliegens beraubt haben.

Flügel wachsen so verdammt langsam!
Und selbst Engel fallen nicht vom Himmel.
Oder doch?