Herta Müller – ein Besuch in Potsdam
4.7.2010, Sonntag Vormittag, 11 Uhr
Die halbe Stadt scheint auf den Beinen, nähert man sich – wie ich – lässig mit dem Fahrrad der Villa Quandt, die in strahlendem Sonnenschein am Fuße des Pfingstberges liegt. Sonnenhüte, Sonntagskleider, gepflegte Konversation beschäftigen Auge und Ohr. Weißbespannte Tischchen, geschäftige Leute, langsam macht sich die Vormittagshitze bemerkbar. Hinter einem opulenten Büchertisch mit den gesammelten Werken der Literaturnobelpreisträgerin thront mit einem sympathischen Lächeln der Meister der guten Bücher in Potsdam: Carsten Wist. Wie immer stilecht gekleidet, heute mit Hut, hat er ein Auge auf … alles, so scheint es.
Nach einer kurzen Begrüßung gehe ich um das stattliche Haus herum, erfasse mit einem Blick die Stuhlreihenszenerie: Alle Plätze im Schatten, auf den Stufen der Villa, sind bereits besetzt. Mir bleibt nur ein Platz in der sengenden Sonne; die schwarzen Kunststoffstühle sind heiß wie Bügeleisen. Denn obwohl auf Werbung weitgehend verzichtet wurde, war die Veranstaltung schon Wochen vorher ausverkauft. Nur am Literaturladen Wist in der Fußgängerzone wurde dezent auf den Besuch der derzeitigen „Vorzeigedeutschen“, auf die auch Rumänien Anspruch erhebt, hingewiesen. Doch so ein Ereignis spricht sich in interessierten Kreisen schnell herum.
Das Literaturkollegium Brandenburg hat gut daran getan, diese interessante Autorin, deren Namen noch vor einigen Monaten kaum jemand kannte, hierher zu holen. Das Publikum schwitzt, harrt aber in gespannter Erwartung aus. Fächer werden herausgeholt, Tücher und Servietten als Sonnenschutz auf Köpfe gelegt. Durchhalten heißt die Parole. Auch für mich in der dritten Reihe. Wenn schon in der Sonne, dann möglichst weit vorn, dachte ich mir. Trotz des luftig leichten Sommerkleides schwitze ich aus allen Poren. Aber: Ich werde sie perfekt sehen und hören … Dieses Opfer ist die Literatur wert.
Im Publikum sitzen Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlichst gekleidet. Allerdings dominieren: Frauen, weiße Haare und Sommerröcke. Wasserflaschen kreisen, Gesprächsfetzen irren umher, erste von der Hitze erschöpfte setzen sich unter die Bäume in den Schatten, von wo sie aber wieder fortmüssen. Ein Mann mit kurzem Hemd und Strohhut setzt sich schräg vor mich und beginnt ungefragt ein Gespräch – über die Autorin, ihr berühmtestes Werk „Die Atemschaukel“ und Literatur an sich. Ich bin eher einsilbig, nicht besonders offen für Gesellschaft. Ich möchte mich konzentrieren – auf die Atmosphäre, das vor mir liegende.
Dann ist es soweit: Applaus brandet auf. Zuerst sieht man sie gar nicht, erblickt nur den Pulk, der sich durch den Mittelgang nach vorn bewegt: Die kleine zierliche Person, ganz in schwarz, betritt das Podium.
Sie lächelt ein Lächeln zwischen Schüchternheit und Resolutheit. Ihre zum Markenzeichen gewordenen blutroten Lippen formen eine Begrüßung, sie wirkt winzig unter dem großen weißen Sonnenschirm. Das Publikum hat sie beinahe euphorisch empfangen. Es wird still. Sie bedauert uns in der Hitze sitzenden, rutscht auf ihrem Stuhl, lächelt. Ihre Augen sind klar, aufmerksam und schwarz umrandet, ihr Haar voll und dunkel. Es folgt ein kurzes Gespräch, an dessen Anfang der Vertreter des Literaturbüros sich den Ärger über das – auch nach einem hektischen Reparaturversuch – nicht funktionierende Reversmikrophon anmerken lässt. Frau Müller aber agiert kurzerhand ganz praktisch: Sie schiebt ihm ihr kleines Tischmikro hin: „Nehmen Sie doch dies.“ Sie steht in ihrer schmalen schwarz glänzenden Hose auf, bückt sich seitlich und zieht das Kabel am Tischbein entlang, so dass seine Länge nun ausreicht, um zu ihrem Gesprächspartner verschoben zu werden. Ihr unkompliziertes Engagement wird mit Applaus honoriert. Das Hin- und Herschieben des Mikros stört im folgenden gar nicht. Sie beantwortet einige ernste Fragen zur Entstehung des Buches, zur Thematik, zu politischen, familiären und freundschaftlichen Hintergründen, deren Antworten mir aus Interviews und Gesprächsrunden größtenteils bereits bekannt sind. Sie spricht rhythmisch, nicht sehr laut und mit Akzent.
Sie live zu erleben, finde ich wahnsinnig interessant. So also sieht eine Literaturnobelpreisträgerin aus – mein Traum / Vorbild … natürlich Quatsch – aber dennoch … Etwas Schwärmerei stehe ich mir heute zu; es passt zu diesem verträumten Ort mit Blick auf die wilde Wiese und die Raubvögel am Himmel. Ein ganz normaler Mensch und doch wirkt sie – auch wenn es klischeehaft scheinen mag: fragil, poetisch, artifiziell. Stellenweise beinahe androgyn und dennoch sehr direkt, eindeutig. Der Künstlertypus der Decadence. Obgleich sie zu Beginn auf mich etwas fahrig wirkt, Lampenfieber? Sehr sympathisch! Sind ihre Antworten … – ja: leicht verständlich, menschlich … kein abstraktes, intellektuell verklausuliertes Fremdwörtergewirr. Sie nennt die Dinge beim Namen, redet klug, aber eben „ganz normal“. Ein weiterer Pluspunkt. Ich recke den Kopf, lausche ihr, sehe sie direkt an, wenige Meter vor mir. Einmal kurz hoffe ich, dass ich bei diesen Temperaturen und der direkten Sonneneinstrahlung nicht ohnmächtig werde. Das wäre jetzt wirklich schade!
Auf die Frage nach dem Umgang mit dieser großen Auszeichnung antwortet sie nach kurzem Nachdenken: „Ich habe mich daran gewöhnt.“
Sie spricht das große Glück, aber auch das Theater, das mit der Art der Auszeichnung verbunden ist, an. Sagt, dass so ein hochdotierter Preis einen über ihrem Kopf schwebenden Lorbeerkranz imaginiere, dessen Erwartungen eben ab und an erfüllt werden wollen.
Dass so viel Geld, das daran hänge, aber auch hörig mache – gerade die Öffentlichkeit. Sie versuche zu trennen, der Preis beträfe nicht sie, sondern das Buch. Sie sagt, dass sie im Grunde nichts dazu getan hätte, man sie aus dem „Hut gezogen“ hätte. Sie wisse nicht, warum gerade sie den Preis verliehen bekommen habe; es gäbe so viele andere Werke, die auf der Liste stünden und die meisten eben immer nur dort. Es klingt ehrlich; sie kokettiert nicht. Sogar, dass sie nach jeder Lesung – mit Blick über die Stuhlreihen : „so viele Menschen“ – , versuche, diese sofort wieder zu vergessen, verzeiht ihr das Publikum. Sie setze sich dann an ihren Schreibtisch, arbeite und versuche weiter zu machen wie bisher. Denn das sei ihr Beruf: Zu schreiben, Dinge mit sich selbst auszumachen. Die öffentlichen Auftritte zur Zeit eher ein Job. Es gehöre eben dazu. Man dürfe sich aber nicht von diesen Events berauschen lassen, sagt sie, sonst „verblöde“ man. Sie schmunzelt, das Publikum lacht.
Nach circa einer halben Stunde Gespräch und viele Schweißtropfen später, es ist wirklich brütend, beginnt die eigentliche Lesung. Ich bin sehr gespannt, was und wie sei lesen wird. Sie nimmt das Buch zur Hand, setzt ihre kleingläsrige schwarze Brille auf und räuspert sich. Einführend nur einige kurze Worte: Sie beginnt dort, wo der Protagonist den Koffer packt – in Erwartung …
Sie liest konzentriert, reduziert intoniert, der Text ist selbstredend. Es folgt eine weitere Passage – bereits aus dem Lager. Zwei oder drei weitere Stellen aus dem Lageralltag. Es ist erschütternd; eine ältere Frau neben mir weint beinahe. Auch ich mir treten, wie schon bei der ersten Lektüre Tränen in die Augen angesichts der treffenden Formulierungen des Unsagbaren. Ich schäme mich nicht.
Zwischendurch trinkt Frau Müller etwas. Ihre Scheu vor großen Kameras hat sie soweit unterdrückt, dass sie das Teleobjektiv in der ersten Reihe außen relativ gut ignoriert hat. Im ersten Drittel der Lesung jedoch irritierte sie eine Filmkamera direkt vor ihr sei so sehr, dass sie zaghaft darum bat, diese nicht aufzustellen, da das Stativ auch erst jetzt aufgebaut wurde, mitten in der Lesung. Ich konnte sie verstehen.
Der „Hungerengel“, die Worte, die Personen, die schrecklich schönen Formulierungen „da schiebt jeder sein Heimweh wie eine schwere Kiste.“, die furchtbar (traurigen) Begebenheiten (die winzigen kaum geborenen, aus Mitleid in der Latrine ertränkten Mäuse) wurden in ihrem Munde noch einmal richtig lebendig, beinahe greifbar. Ein wahnwitziger Kontrast: Auf die von der Hitze flimmernde Wiese zu schauen, während sie mit rollendem R weite russische Steppe rund um das Gefangenenlager beschreibt, das Brennen der Sonne auf der Haut zu spüren, während einer Figur die erfrorenen, wurmzerfressenen Zehen abgenommen wird, sich das Brottuch vorzustellen, während man selbst zu essen in der Tasche hat. Vor allem aber diese Leere, Verzweiflung, die Wandlung, die psychische und physische Versehrtheit des Protagonisten im Kopf Gestalt annehmen zu lassen. Für mich war es beeindruckend.
Bevor sie den letzten Auszug las, bot sie an, aufzuhören, damit wir endlich aus der Sonne kämen. Nur einmal kurz sichte sie sich über die Oberlippe; sie trank Wasser. Es tue ihr so leid für uns, doch wir wollten hören, wollten mehr. Also las sie vom Ende. Von der Rückkehr. Davon, dass das Lager mit jedem real zurückgelegten Kilometer mehr in seinem Kopf nur größer wurde – bis es von der linken zu rechten Schläfe reichte. Nachdem die Hauptfigur in der Mitte des Buches im Traum auf einem weißen Schwein durch den Himmel nach Hause geritten war, tanzte er jetzt, zurückgekehrt, mit einer staubigen Rosine. Er saß an seinem weißen Resopaltischchen, ein Quadrat, lauschte den Glockenschläge, sah den Sonnenflecken im Zimmer zu, und fühlte der vergehenden Zeit nach. Frei, aber gezeichnet.
Sie bedankte sich kurz, der Applaus war lang und frenetisch. Sie lächelte, es schien ihr Spaß gemacht zu haben. Blumen wurden überreicht, noch ein Dankes- und Abschiedsgruß. Dann war sie runter von der kleinen Bühne und wurde von Verantwortlichen und Gratulanten durch den Mittelgang nach hinten ins Haus begleitet.
Ich stand auf, wollte gern noch einen Blick auf die Autorin erhaschen und ging ihr hinterher, mein Buch signierbereit in der Tasche … Die kleine Gruppe ging einmal durchs das Haus, hinten gleich wieder raus – links herum zum Signiertisch. Herta Müller saß recht zufrieden, wenn auch etwas überfordert angesichts der vielen Menschen, mit der einen Hand eine Zigarette rauchend, mit der anderen bereits die ersten Bücher signierend an einem Tischchen. Vor ihr ein Becher Mineralwasser, der später noch umkippend einen kleinen Tumult verursachen sollte, und der Kopf einer laaaaaaangen Schlange Bücherfreunde. Ich hatte Glück und kam relativ schnell dran. Eine eifrige, trotz Etuikleid und Nadelstreifenjackett etwas derangiert wirkende Frau, wies uns eilig an, unsere Bücher signierfreundlich aufgeschlagen bereit zu halten. Verständlich, die Schlange war wirklich lang und stand zum größten Teil noch immer in der prallen Sonne. Ich beschränkte mich darauf, Frau Müller mein aufgeschlagenes Buch zu reichen, ein paar Worte der Bewunderung auszusprechen, ihre kurze freundliche Antwort abzuwarten und selig mit meiner Beute im Arm Platz für die nächsten Platz zu machen. Eine schöne Begegnung!
PS. Da ich bereits von mehreren Seiten gefragt wurde: Nein, ich habe ihr in den wenigen Sekunden nicht erzählt, dass ich „auch schreibe“. Ich denke, das hört sie wahrscheinlich ständig, ist wenig relevant und außerdem irgendwie peinlich.
PPS. Ich bin gespannt auf ihre anderen Bücher, vor allem auf sie als Lyrikerin… habe noch viel zu lesen.
(Barbara Schilling)