Ich fand Spuren im Schnee. Abdrücke von Absätzen. Energisch in den hart gebackenen Schnee gebohrt.

Es hatte wieder geschneit. Feine leichte Flocken fielen aus den Wolken. Ein Schneemannrest bat auf der Wiese um Asyl. Schneeberge türmten sich am Rand wie Grabsteine.

Die tiefen Einkerbungen auf dem Weg zeigten die Richtung zur Bushaltestelle an. Hufeisenförmig waren sie, oben gerade geschlossen. Leicht nach außen gestellt. In gleichmäßigen Abständen, doch nur auf den ersten Blick. Mich faszinierten diese Spuren. Ich schaute genauer hin und entdeckte, dass diese unbekannte Person nur vermeintlich immer die gleiche Schrittlänge nahm. Sie variierte, kaum merklich, aber ich konnte es sehen. Ich habe ein gutes Auge … Ich liebkoste diese gerade deutliche Spur 30 Tage lang. Ich verlor sie immer vorn an der Ecke, wo ich links abbiegen musste.

Der graue Himmel kühlte den von tausend Schritten festgestampften Schnee. Ihre Spuren sehe ich sofort. Noch nach Stunden kann ich sie auf einen Blick ausmachen. Sie sind unverwechselbar. Ich fühle sie. Sogar im Dunkeln. Ich habe es ausprobiert.

Eines Tages wartete ich hinter einem Baum. Ich erkannte sie schon von weitem. An ihrem Gang, hart federnd. Anders kann ich das stoßweise Aufsetzen der Füße und das darauf folgende harmonische Hinübergleiten des Körpers auf die andere Seite nicht beschreiben. Sie war schön. Ich konnte nicht viel erkennen. Doch ich wusste, sie war schön. Auch ihr schwarzer taillierter Mantel, der schwarze Männerhut auf dem blonden Haar, der ihrem Auftreten eine kecke Note verlieh, und die hohen schwarzen Lederstiefel mit den kleinen halbrunden Absätzen waren schön. Aber das war es nicht. Da war etwas anderes. Wie sie sich bewegte. Nein, das war es auch nicht … Die Luft. Es war die Luft, die sie umgab. Sie schien zu vibrieren. Trotz der frostigen Temperaturen schien sie eine Hitze auszustrahlen, die die Luft flimmern ließ. Ich sah ihr lange nach. Als meine Hände wieder kalt wurden, folgte ich unauffällig ihren Spuren.

Ich stand vor einer Tür aus Milchglas. Eine Arztpraxis. Ich musste den Kopf heben, denn hier endete ihre Spur. Ich atmete einen Augenblick, dann drehte ich mich um.

Am nächsten Tag kam sie im gleichen Tempo heran, wie am Tag zuvor. Sie trug Mantel, Hut und Stiefel, doch ihre Schritte schienen heute schneller aufeinander zu folgen. Ich fühlte den Hauch von Sommerhitze, als sie vorbeiging. Hart grub sie die Stiefelansätze in den weißen Untergrund. Nicht einmal der Schnee wagte unter ihren Füßen zu knirschen. Trotzig deklarierte sie ihre Existenzberechtigung, ihr Recht, hier und jetzt durch diesen Schnee zu gehen.

Ich wartete vor der Praxis. Eine Straßenbahnhaltestelle ermöglichte mir unauffälliges Ausharren in der Nähe des Eingangs. Sie kam erst gegen Mittag wieder heraus, trug den Mantel nachlässig gebunden und sah auf den Boden: Es musste etwas Ernstes sein. Eisige Gedanken betäubten mein Gehirn. Wahrscheinlich hatte sie Krebs. Wie meine Mutter. Da hatten sie auch zuerst lange nichts gemerkt, und dann ging es ganz schnell. Ich schabte unruhig im braunen Schneematsch unter meinen Sohlen. Sie sollte nicht sterben. Sie war viel zu jung. Und viel zu schön. Wenngleich ich noch niemals ihr Gesicht gesehen hatte. Nur als Schatten unter der Hutkrempe. Aber ihre Gestalt, die war schön.

Ich lese ihre Spuren wie ein Buch – ernst und voller Hingabe.

Sie lief nach Hause. Unsicher war ihr Schritt, ihre Spur unsauber. Ich war mir sicher, dass sie ihr heute, gerade eben die schreckliche Nachricht überbracht hatten. Dass sie bald sterben musste. Unter Schmerzen. Allein. Am Ende ist man immer allein, hatte meine Mutter gesagt, als ich ihr Blumen bringen wollte. Sie hat den Strauß Margeriten in den Mülleimer geworfen und mich aus dem Zimmer gejagt. Allein.

Morgen würde sie wiederkommen. Sie musste jetzt sicher jeden Tag zur Behandlung in die Praxis gehen. Sich Injektionen verabreichen lassen, Tabletten holen. Würden sie wohl ambulant mit der Strahlentherapie beginnen? Ich glaube nicht. Und doch: Unter ihrem schwarzen Hut würde der Wegfall des Blondhaares gar nicht auffallen. So lange es Winter war, würde sie schön sein.

Ich legte ihr Blumen vor die Tür. Die Tür der Praxis. Weiße Margeriten. Doch als sie am späten Vormittag die Praxis verließ, erschöpft ließ sie die Schultern hängen, trat ihr linker Lederstiefel auf den Strauß. Achtlos trat sie die Blumen in den schneeigen Rinnstein – und ging. Ich folgte ihren Spuren.

Am Morgen waren ihre Schritte energiegeladen, stets scharf und genau die Abdrücke ihrer Absätze im Schnee. Wenn sie von den anstrengenden Arztbesuchen nach Hause kam, schienen ihre Spuren genauso deutlich. Doch das waren sie nicht. Ich konnte an der Art wie sie lief, erkennen, wie es ihr ging. Sie wirkte dann mutlos und fahrig. Zwar spannte sie die Schultern, doch ihr Schritt wurde kraftlos.

Verzweifelt folgte ich den Spuren ihrer Existenz.

Am letzten Tag: Das Weiß des Schnees stach mir ins Weiß meiner Augen. Dennoch las ich ihre Spuren wie ein Jäger. Ich kniete nieder und aß den Schnee, der unter ihren Schuhen geklebt, sie indirekt berührt hatte. Intim. Der Schnee wird in meinem Mund zu Wasser. Ich habe nie etwas Köstlicheres geschmeckt. Eiskristalle, die auf Lippen und Zunge zergehen, ein Teil von mir werden.

Doch ihre Spuren auf dem inzwischen ausgetretenen Pfad waren blass und ungewöhnlich undeutlich. Als hätten sich ihre Füße schon auf den Weg gemacht, die Erde zu verlassen.  Ich musste zu ihr.

Lange versuchte ich durch die Milchglasscheibe im Türrahmen zu spähen.

Ich betrat die Praxis. Sie saß hinter dem Empfangstresen und lächelte mir zu.

„Sie wünschen?“